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Tief unter dem Burgberg der Plesse wohnte einst ein stilles Zwergenvolk, das sich unsichtbar zu machen vermochte und durch jede verschlossene Türe, durch jede Mauer wandelte, so es ihm beliebte.
 
Das Zwergenvolk war den Menschen wohl gesonnen, es war hilfreich und guttätig, blieb aber immer im Verborgenen. Die Leute wussten, dass es dieses Zwergenvolk gab, denn sie wussten um ihre guten Taten, jedoch wurde nie einer der Zwerge gesehen. Daher nannte man es das Stille Volk von Plesse.
 
Einmal, die Kreuzzüge waren längst vergessen, verirrte sich ein Student aus Göttingen auf die Burg. Er war in ein Unwetter geraten und irrte auf der Burg umher. Dabei stieß er auf den Burgbrunnen und blickte in die Tiefe hinab. Aus ihr kam dem jungen Mann ein Licht entgegen. Dieses entpuppte sich als Laterne, die von einem Zwerg getragen wurde. Schweigend bedeutete der kleine Wicht dem Menschen ihm zu folgen. Sie traten gemeinsam auf eine kreisrunde Platte, die sich sofort in die Tiefe absenkte.

Grafik von Lisa BergUnten angekommen öffnete der Zwerg eine schwere Tür, die eine dunkle Höhle verschloss. Sie traten in die Höhle, der Zwerg eilig voran, der Göttinger Student zögerlich hinterdrein. Bald schon wurde es hell – vor ihnen lag eine weite, blühende Wiese, die von sanften Hügeln, wie auch von steilen Bergen umrahmt war.

Auf der Wiese standen winzige Häuser, die alle in einem Halbkreis angeordnet waren. Die schmucken Häuschen waren aus edlen Steinen erbaut und überall mit Gold, Silber und Edelsteinen geschmückt. Vor den Häuschen standen prächtig gedeckte Tische mit feinsten Speisen und herrlichen Getränken beladen. Bequeme Sessel standen bereit und dienende Menschen luden wortlos zum festlichen Mahl.

Obwohl kein Wort fiel, wusste der Student nun, er war zu Gast bei dem liebevollen Stillen Volk von Plesse. Der Student aus dem Leinetal labte sich an den köstlichen Speisen, dem guten Wein und war begeistert von der Freundlichkeit der Zwerge.

Auch stimmten die kleinen Wichte, ob jung, ob alt, ihm zu Ehren ein Liedchen an. Er merkte sich den Text und der ging so: „Nicht Rank und Stand / hat unser Land / nicht Hass und Neid / nicht Zank und Streit / nicht Trug und List / weil einer des anderen Bruder ist …“

Dann kam ein altes Männlein, nahm den Gast und führte ihn in eine verborgene Höhle. Die war voller Gold und Silber sowie edlem Gestein und wertvollen Schmuckstücken. Mit einer Geste wurde der Student aufgefordert, sich so viel von dem Reichtum zu nehmen wie er wolle. Nachdem er sich alle Taschen gefüllt hatte, führte ihn der alte Zwerg wieder zurück in die oberirdische Welt. Über Eddigehausen und über Bovenden wanderte er zurück nach Göttingen. Aber wo er auch seine Geschichte erzählte, keiner wollte ihm glauben – dabei sprach der Inhalt seiner Taschen für sich. Es muss wohl stimmen, was der verirrte Student da erzählte, woher sollte er sonst seine Reichtümer haben?


gezeichnet von Lisa Berg

 
Sagen, Mythen und Legenden aus dem Harz, Bd. 4
Bernd Sternal (Autor), Lisa Berg (Autor + Zeichnungen)
Sagen, Mythen und Legenden - Band 4Unser vierter Band schließt nahtlos an die Sagen, Mythen und Legenden der drei vorherigen Bände an. Es ist schon erstaunlich, wie viele dieser literarischen Relikte die Zeit überdauert haben. Das zeugt davon, wie wichtig es den Menschen in alter Zeit war, diese „Geschichten“ für ihre Nachwelt zu erhalten. Heute, in unserem Informationszeitalter, ist es eher unüblich noch Geschichten zu erzählen oder vorzulesen. Daher sind viele der alten Überlieferungen auch weitgehend in Vergessenheit geraten. In diesem und den noch folgenden Bänden werden wir sie wieder zum Leben erwecken – natürlich wie gewohnt, mit wunderschönen Zeichnungen von Lisa Berg. Übrigens, zahlreiche dieser Harzer Sagen, Mythen und Legenden waren auch Inspiration für einige bekannte Volksmärchenautoren wie die Brüder Grimm, Ludwig Bechstein, Ernst Moritz Arndt und Hans Christian Andersen.
Gebundene Ausgabe: 29,99 €
144 Seiten mit 56 farbigen Illustrationen

Taschenbuch: 14,99 €
144 Seiten mit 56 schwarz-weiß Illustrationen

 
 
   

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