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Nahe der Ilse, unterhalb vom Ilsestein, stand einstmals eine Hütte. Dort wohnte Gottfried mit seinen Eltern, die arme Köhlersleute waren. Gottfried war ein hübscher, aufgeweckter Junge, mit langen blonden Haaren. Oftmals herrschte Hunger bei der Köhlerfamilie, so dass der Junge durch Botengänge und andere Arbeiten zum Lebensunterhalt beitragen musste.

Nun lebte in Ilsenburg, nicht weit weg von der Köhlerfamilie, dicht am Waldrand, eine Frau die aus der Fremde zugezogen war. Sie hieß Walburga, mehr wusste man nicht und sie pflegte auch keinen Kontakt zu anderen Leuten. Doch es schien als ob sie recht wohlhabend sei. Eines Tages kam eine kranke Bettlerin mit ihrem kleinen Töchterlein zu der Frau. Am anderen Tag war die Bettlerin verstorben. Walburga aber behielt das kleine Mädchen bei sich und kümmerte sich, als wenn es ihr eigenes gewesen wäre. Die Kleine hieß Lisa und war ein allerliebstes Mädchen mit goldbraunem, langem Haar und treuen, braunen Rehaugen.
Gottfried, der oft Tannzapfen sammelte, um sie zu verkaufen, brachte davon auch oft welche zu Frau Walburga. Dann spielte er oft mit der kleinen Lisa, denn er mochte sie und Frau Walburga mochte auch den Gottfried. Es waren zwei liebe Kinder und weil dem so war, gesellten sich auch öfters Zwerge und Elfen zu den beiden, weil die gern bei lieben Kindern sind.

Aber etwas fiel den Leuten auf! Immer am letzten Tag des April verließ Frau Walburga in aller Frühe das Haus und kehrte erst zwei Tage später wieder zurück. So kam das Gerücht auf, dass sie während dieser Zeit als Hexe auf dem Brocken sei. Auch Gottfried, der inzwischen heran gewachsen war, hörte von diesem Gerücht. Da Frau Walburga immer gut zu ihm war, sah er keinen Grund, schlechtes von ihr zu denken. Zu Lisa, die inzwischen zu einem bezaubernden jungen Mädchen herangewachsen war, hatte er immer noch ein freundschaftliches Verhältnis. Einmal erzählte die ihm von einem Besuch eines reichen Herrn, der öfters kam, um Geld zu bringen. Der trug immer einen feinen schwarzen Samtmantel, der innen mit roter Seide gefüttert war. Zu ihr sei der Fremde immer sehr freundlich und streichelte ihr das Haar und die Wangen und habe gesagt, dass sie mit ihrer Mutter ihn bald besuchen werde. Das gab Gottfried zu denken! Auch erzählte man im Ort, den Fremden gesehen zu haben und eine Nachbarin wollte sogar den Pferdefuß erkannt haben. So machte es in Ilsenburg die Runde – Frau Walburga habe ein Bündnis mit dem Teufel. Auch das Frau Walburga heilsame Medizin aus Kräutern, Früchten und Wurzeln bereiten konnte verstärkte das Gerücht. Dabei nahmen die Leute die Hilfe von Frau Walburga gern an, sie kamen aber immer nur abends, im Dunkeln, um nicht gesehen und erkannt zu werden.

Grafik von Lisa BergDas Gerücht, dass sie eine Hexe sei, nahm ständig zu. Eines Tages dann kamen einige Gerichtsdiener in ihr Haus und führten sie weg. Sie kam ins Gefängnis und man machte ihr einen Hexenprozess. Frau Walpurga beteuerte zwar ihre Unschuld, als man sie aber in die Folter nahm, gab sie alles zu. Walburga berichtete ausführlich von ihrem verbrecherischen Tun – wie sie mit ihrem Haushahn auf den Brocken ritt, wie dort oben Hexen und Teufel sich die Bäuche voll schlugen, wie der Wein in Strömen floss und wie sie dann ausgelassen Sangen, sprangen, tanzten und über den Brocken flogen. Auch wie alle Anwesenden gelobten, es für immer mit dem Teufel zu halten, weil sie dann für alle Zeiten alles in Hülle und Fülle hatten.

Dann wurde das Urteil gesprochen – Walburga sollte auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden. Lisa saß zu Hause und weinte sich die Augen wund. Zu Gottfried sagte sie, dass sie nicht glauben könne, dass ihre Mutter eine Hexe sei. Allen Leuten habe sie immer geholfen und jetzt klagen sie die alle an. Auch erzählte sie ihm, dass Walburgas Vater einst als Heiler in gräflichen Diensten war und sie von ihm alles gelernt habe.
Als man mit der Folter von Walpurga abließ, widerrief sie ihr Geständnis. Sie gab an, dass sie immer nur bei Tage zu Walpurgis auf den Brocken gegangen sei, um die ersten frischen Kräuter zu suchen. Die brachte sie dann ins Schloss Wernigerode, wo man sie dafür großzügig entlohnte. Als man Ihre Aussage überprüfte, ergab sich, dass sie die Wahrheit gesprochen hatte.

Gottfried grübelte Tag und Nacht, wie er der armen Walburga helfen könne, denn er glaubte von Anfang an nicht an ihre Schuld. Eines Tages saß er allein im Wald über dem Ilsestein, hatte sich an eine Felswand gelehnt und schlief müde vom Denken und Grübeln ein. Plötzlich sprach in jemand an, es war ein Zwerg, der gerade aus dem Berg getreten war. Der sprach zu ihm: „Nimm diesen Stab, er öffnet alle Schlösser, wenn du sie damit berührst, so auch das hinter dem Frau Walburga sitzt. Führe eine Jungfrau ins Gefängnis, öffne ihr die Tür und sie kann die Gefangene herausholen und in ihr Heim führen, ohne dass euch jemand aufhalten kann. Auch wird es keiner wagen euch zu hindern!“.
Gottfried erwachte und rieb sich die Augen, was für ein Traum dachte er. Aber was war dass, was hatte er da denn in der Hand? Wahrhaftig einen Stab! Das war derselbe, den ihm im Traum der Zwerg gegeben hatte. Er hatte jetzt einen Weg, Frau Walpurga zu befreien!

Zur selben Zeit saß Lisa an der Ilse nahe ihrem Haus, hörte dem Rauschen des Baches zu und dachte darüber nach, wie sie ihrer Mutter helfen könne. Plötzlich stand eine Elfe vor ihr, eingehüllt in einen feingesponnenen Schleier. Den nahm sie ab, reichte ihn Lisa und sagte: „Hülle deine Mutter in diesen Schleier und führe sie dann aus dem Gefängnis!“ und verschwunden war sie. Lisa glaubte geträumt zu haben, aber sie hielt den Elfenschleier in der Hand. Also musste es wahr sein und kein Traum! Schnell lief sie zur Köhlerhütte, um Gottfried zu berichten. Der kam ihr aber schon entgegen, mit dem Zauberstab des Zwerges in der Hand. Nun war ihm klar, wer die Jungfrau sein sollte und sie beschlossen noch in jener Nacht Walburga zu befreien.

Als es Nacht zu werden begann nahmen sie Elfenschleier und Zwergenstab und begaben sich zum Schloss Wernigerode, wo Walburga im Kerker saß. Lisa tat den Schleier um, nahm den Stab und ging ins Schloss. Alle Schlösser taten sich ihr auf! Dann stand sie vor dem Gefängnis, vor dem eine Wache saß und schlief. Sie musste noch durch einige Türen und an einigen Wachen vorbei, aber niemand hielt sie auf. Dann stand sie vor der Zelle ihrer Mutter. Auch dieses Schloss öffnete sich wie von Geisterhand völlig geräuschlos.

Walburga lag auf ihrem harten Lager und schlief unruhig. Da weckte sie Lisa und flüsterte ihr zu ihr still zu folgen. Ohne aufgehalten zu werden erreichten sie das Freie und gelangten unbehelligt zu Walburgas Haus.
Am anderen Morgen erzählten die Wärter, ein Engel im weißen Kleid hätte die Gefangene befreit. Inzwischen aber hatte der Graf Walburga schon für unschuldig erklärt, so dass es keine Nachverfolgung gab. Der feine Herr im schwarzen Samtanzug aber war Lisas heimlicher Vater und kam zur Hochzeit von Lisa und Gottfried um sie reich zu beschenken. 


gezeichnet von Lisa Berg

 
Sagen, Mythen und Legenden aus dem Harz, Bd. 3
Bernd Sternal (Autor), Lisa Berg (Autor + Zeichnungen)
Sagen, Mythen und Legenden - Band 3Unser dritter Band „Sagen, Mythen und Legenden“ unternimmt, wie seine Vorgänger, eine literarische Reise quer durch die Harzregion. Auch diesmal wird wieder von den Menschen der Region, von geschichtlichen Ereignissen, von der vielschichtigen Landschaft und von unerklärlichen Ereignissen und Begegnungen erzählt. Wir möchten bei der Lektüre Ihre Phantasie noch mehr anregen, denn die ist bei Sagen ein unentbehrliches Instrument. Daher hat die Illustratorin, nach Möglichkeit, die jeweiligen Handlungsorte, seien es Gebäude, Felsformationen o.a. in den Illustrationen noch intensiver bildlich dargestellt. Lassen Sie sich erneut entführen in eine alte, längst vergangene Zeit und freuen Sie sich schon auf den nächsten Band.
Gebundene Ausgabe: 29,90 €
148 Seiten mit 47 farbigen Illustrationen

Taschenbuch: 14,99 €
148 Seiten mit 47 schwarz-weiß Illustrationen

 
 
   

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