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Titel

Am ersten Weihnachtsmorgen, um vier Uhr in der Früh, wurden hier in den Harzer Dörfern in allen Kirchen heilige Christmessen gehalten. Scharenweise strömten die frommen Christen in der Dunkelheit zum Gotteshause, um das heilige Christfest damit zu beginnen. So war es auch in Wildemann Brauch.

Eine Frau, eine fromme und gute Christin, hatte sich am Heiligen Abend vorgenommen am anderen Morgen auch in die Christmesse zu gehen. Früh schon war sie zu Bett gegangen, um früh genug wieder aufzustehen und nicht zu spät zu kommen. Da wacht sie mitten in der Nacht auf und meint, es sei schon gegen drei, denn eine Uhr hat sie noch nicht gehabt und Uhren hat es damals überhaupt nur selten gegeben. Sie steht also auf, zieht sich an und geht zur Kirche.

Dort angekommen wundert sie sich so vor sich hin, dass noch nicht mehr Leute auf den Beinen sind, die auch in die Kirche gehen. In ihrem Sinn denkt sie, ist gut, bist du eben die Erste. Als sie auf den Kirchhof kommt, sieht sie die Kirche hell erleuchtet, es ist aber noch alles toten-still darin, als auch davor. Sie geht hinein. Die Kirche ist leer, kein Mensch darin zu hören noch zu sehen.

Da schlägt es Elf und als es ausgeschlagen hat, beginnt das Festgeläute so feierlich in die Nacht hinein zu tönen, dass der Frau dabei schon die Augen übergehen. Dann strömen die Leute herein, aber nicht die, welche damals noch gelebt haben, sondern alles solche, die schon lang tot gewesen sind und im Grabe geruht haben. Die aber hatte die Frau alle gekannt. Also, Leute aus Gräbern füllen die Bänke und die Stühle. Und die verstorbenen Anverwandten der Frau, setzen sich rechts und links neben sie.

Nachdem ausgeläutet war, beginnt ein feierlicher Totengesang zu den Klängen der Kirchenorgel, so herzergreifend, dass die Frau fast in Tränen zerfließt. Hierauf tritt der Prediger, der erst vor zwei Jahren gestorben war und auf dem Wildemanner Kirchhof beerdigt wurde, auf die Kanzel und predigt so klar und so wahr, wie die Frau es noch nie gehört hat. Dann sprach er den Segen und bei dem Worte Amen schlägt es Zwölf. Da sind plötzlich alle verschwunden, die Kirche ist finster und leer und die Frau muss im Dunkeln hinaus tappen und nach Hause gehen.

Grafik von Lisa Berg

Zu Haus angekommen, sinkt sie zu Tode erschöpft auf einen Stuhl nieder und kann kaum noch ihre Leute rufen, die ihr gleich ein Lager auf der Ofenbank zurechtmachen müssen. Hier liegt sie fast zwei Stunden in totenähnlichem Schlafe, rührt und regt sich nicht. Dann tut sie die Augen auf, sieht um sich, erblickt alle die Ihrigen um ihr Lager versammelt, die da denken, dass sie nicht wieder erwacht und deshalb herzlich weinen.

Denen erzählt sie dann mit schwacher Stimme, was sie in der verflossenen Nacht erlebt hat und als sie eben mit der Erzählung fertig ist, da läutet es zur wirklichen Christmesse. Jetzt gehen die Lebendigen dahin, aber die Frau stirbt in dem Augenblick und geht zum lieben Gott in den Himmel.


gezeichnet von Lisa Berg

 
Sagen, Mythen und Legenden aus dem Harz, Bd. 1
Bernd Sternal (Autor), Lisa Berg (Autor + Zeichnungen)
Sagen, Mythen und Legenden - Band 1Mythen, Sagen und Legenden prägen den Harz wie kaum etwas anderes, wir begegnen ihnen auf Schritt und Tritt. Sie berichten von geschichtlichen Ereignissen oder einfach nur vom Leben der Menschen. Sie entstanden zu Zeiten, wo Schreiben und Lesen Adel und Kirche vorbehalten waren. Darum wurden sie mündlich überliefert, von Generation zu Generation.

Wir haben sie gesammelt, ihnen ein modernes Kleid geschneidert und sie farbig illustriert. Um sie zu erhalten und weiter zu überliefern, denn leider sind Erzählstunden nicht mehr all zu modern. Vielleicht gefallen ihnen ja unsere Harzer „Geschichten“ aus alter Zeit und sie erzählen sie ihren Kindern und Enkeln weiter?

Gebundene Ausgabe: 29,90 €
148 Seiten mit 59 farbigen Illustrationen

Taschenbuch: 14,99 €
148 Seiten mit 59 schwarz-weiß Illustrationen

 
 
   

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